«Jubeln können wir nicht», sagt die Grüne Co-Kantonspräsidentin Selma L’Orange Seigo sichtlich enttäuscht zum Abschneiden ihrer Partei. In der Tat gehören die erfolgsverwöhnten Grünen zu den einzigen wirklichen Verlierern der Zürcher Wahlen vom Sonntag. Die Partei büsst beim Wähleranteil 1.5 Prozentpunkte ein und verliert drei Sitze im Kantonsrat.
Anders als vor vier Jahren – als die grüne Welle über Zürich schwappte – verlief der Wahltag weniger spektakulär. Die Bevölkerung entschied sich im Wesentlichen für den Status quo. Die SVP bleibt mit 24.9 Prozent stärkste Partei und gewinnt einen Sitz. Auch die SP und die Grünliberalen verzeichnen je einen Sitzgewinn, obwohl ihre Wähleranteile stagnieren. Die drittstärkste Partei – die FDP – verharrt bei einem Wähleranteil von 15.9 Prozent. Die Mitte legt leicht zu auf 6 Prozent, gewinnt aber gleich drei Sitze dazu.
Die Zürcher Wahlen gelten als Gradmesser und Formtest. Wer im grössten Kanton der Schweiz gewinnt, wird auch bei den nationalen Wahlen im Herbst auf der Siegerseite stehen. In den letzten 20 Jahren habe Zürich die Parteientrends auf nationaler Ebene in neun von zehn Fällen vorweggenommen, sagt Peter Moser, stellvertretender Chef des Statistischen Amtes. Das Stimmvolk des Kantons walte somit gewissermassen als «Orakel» für die Wahlen im Herbst.
Hier fünf Erkenntnisse im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen:
Nach den Wahlen in Zürich deutet sich an, dass die grüne Welle ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Obwohl die Klimathematik weiterhin viel Aufmerksamkeit erhält – auch dank Klimastreiks, Schulhausbesetzungen und Klebeaktionen – gelang es den Ökoparteien in Zürich nicht, nochmals in der Wählergunst zuzulegen. Denkbar ist, dass die Klimapolitik aufgrund dessen als Selbstläufer betrachtet wird.
Grünen-Präsident Balthasar Glättli fühlt sich denn auch nicht als «schlimmer Verlierer». Trotzdem bezeichnet er das schlechte Abschneiden in Zürich als «Weckruf». Von einem Formtest will er nichts wissen. Entscheidend werde sein, wie gut die Grünen im Herbst mobilisieren könnten.
Bereits im Vorfeld war klar, dass Grüne und GLP nach der historischen Wahl von 2019 in Zürich vor einer Bewährungsprobe stehen. Dass dies den Grünliberalen besser gelungen ist, kommt nicht von ungefähr. Politologe Michael Hermann vom Forschungsinstitut Sotomo sieht Anzeichen dafür, dass sich die grüne Welle «teilt». Die GLP verkörpere das neue urbane Lebensgefühl am besten. Auch sei Zürich nicht mehr so bürgerlich wie früher. «Das urbane Denken strahlt in die Agglomeration aus.»
Optimistisch gibt sich auch die Zürcher GLP-Nationalrätin Tiana Angelina Moser. Mit Blick auf das nationale Wahlziel von zehn Prozent sei der Plafond «noch längst nicht» erreicht. Zudem seien sie vor vier Jahren noch nicht in allen Kantonen angetreten. Dass die Partei noch Luft nach oben hat, verdeutlicht auch das Ergebnis der Parlamentswahlen im Kanton Baselland. Dort konnte sie ihren Wähleranteil auf 8.4 Prozent fast verdoppeln. Anders die Grünen: Die Partei musste auch in der Nordwestschweiz Federn lassen. Ihr Wähleranteil sackte von 15.2 auf 12.5 Prozent ab.
Sicherheit, Frieden und Wohlfahrt: Was vor dem russischen Einmarsch als Selbstverständlichkeit galt, ist nun plötzlich gefährdet. Auch in der Schweiz verschieben sich die Prioritäten, wenn es um Aufrüstung, Waffenexporte und Neutralität geht. In dieser Situation haben die bürgerlichen Parteien die besseren Karten. Auch wagen die Menschen in Krisenzeiten keine Experimente und wählen eher konservativ.
Kommt hinzu: Die traditionellen «Armeeabschaffer» der SP und Grünen stecken in einem Dilemma, ihre Politik glaubwürdig zu vertreten. Das zeigen auch Umfragen: Seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges ist die Zustimmung in der Bevölkerung für höhere Rüstungsausgaben gestiegen.
In den letzten Jahren ging es bei kantonalen Wahlen für die SP meistens bergab. So schrumpfte der Wähleranteil der Partei seit 2019 um 2.4 Prozentpunkte (vgl. Grafik). Mit dem Ergebnis in Zürich haben die Genossen den Abwärtstrend vorerst gestoppt. Zugutegekommen sein dürfte der Partei die Themenkonjunktur. Knapper Wohnraum, steigende Krankenkassenprämien oder die Inflation: Bei vielen Themen, welche die Bevölkerung beschäftigen, besitzt die SP eine hohe Glaubwürdigkeit.
Mattea Meyer, SP-Co-Präsidentin, freute sich zwar über das stabile Ergebnis ihrer Partei. «Gleichzeitig sieht es aber nach einem Rechtsrutsch aus», sagte sie. Dies bereite ihr Sorgen, denn die Schweiz brauche eine sozialere und ökologischere Schweiz. «Ich blicke daher nicht sehr freudig auf den Herbst.»
Im Bundesrat sollen die Parteien nach ihrer Stärke im Parlament vertreten sein. Doch die Zauberformel scheint ihre beste Zeit hinter sich zu haben. Seit den letzten Parlamentswahlen sind FDP und SP in der Landesregierung übervertreten. Grüne und Grünliberale haben deshalb schon nach den letzten Wahlen einen Anspruch auf einen Bundesratssitz angemeldet.
Trotzdem scheint es eher unwahrscheinlich, dass die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates nach den Wahlen im Herbst ändern wird. Nach den Zürcher Wahlen ist der Druck auf die Bundesratsparteien SVP, SP, FDP und Mitte jedenfalls nicht weiter gestiegen. (aargauerzeitung.ch)